Enthemmte Gewalt, erhabene Landschaft: endlich ein neuer Roman von Andrzej Stasiuk (2024)

Mit «Grenzfahrt» ist dem polnischen Starautor Andrzej Stasiuk ein grandioser Roman gelungen, der hilft, wenigstens ansatzweise das vergangene, vielmals geschundene und verratene Polen zu verstehen.

Martin Pollack

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Enthemmte Gewalt, erhabene Landschaft: endlich ein neuer Roman von Andrzej Stasiuk (1)

Über zehn Jahre dauerte die Wartezeit auf seinen neuen Roman: In der Zwischenzeit war der polnische Autor Andrzej Stasiuk aber nicht müssig. Er publizierte zahlreiche Werke, essayistische Texte sowie Berichte und Reflexionen über die zahlreichen Reisen, die ihn nach Süden und Osten führten, bis in die Mongolei, deren Wüsten der begeisterte Autofahrer mehrmals durchquerte. Nun endlich ein neuer Roman. Vorweg sei gesagt: Das Warten hat sich gelohnt.

«Ich möchte einen historischen Roman schreiben», kündigte Stasiuk in einem Interview 2018 das Buch an, das drei Jahre später in Polen erschien und begeistert begrüsst wurde. «Die Handlung spielt am Bug im Jahr 1941. Auf der einen Seite die Russen, auf der anderen die Hitler-Soldaten. Dort Treblinka, und hier fliehen Juden über den Fluss. Es gibt auch Partisanen, über die bis heute gestritten wird, wenn die Leute sich betrinken – darüber, wo wer gedient hat, ob er ein Bandit war oder nicht.»

Diese wenigen Sätze umreissen die eine Ebene der grossen Erzählung, die vom Krieg handelt, der gerade eine Atempause einzulegen scheint, die jedoch nur von kurzer Dauer ist. Denn die deutsche Angriffsmaschinerie bereitet sich längst auf den Überfall auf die Sowjetunion vor, eben noch ein Verbündeter Hitlers, mit dem sich Stalin das besiegte Polen geteilt hat.

Welt der Gerüche

Schauplatz ist ein kleines Dorf, nicht viel mehr als eine Handvoll erbärmlicher Hütten am träg dahinmäandernden Bug, der im Verlauf der Geschichte immer wieder Grenzfluss war, zwischen dem Osten und dem Westen, zwei oft verfeindeten Welten.

Keiner versteht es wie Stasiuk, die Flusslandschaft an der Grenze so zu beschreiben, dass man förmlich glaubt, die in der Sonne dampfenden sumpfigen Wiesen, auf denen ein paar magere Kühe weiden, vor sich zu sehen und den fauligen Geruch des Brackwassers in den kleinen, von Weidengestrüpp gesäumten Buchten einzuatmen. Gerüche spielen eine wichtige Rolle in diesem Roman: Da ist der Geruch der Frau, von allen Zigeunerin genannt, der die Begierde der Männer weckt. Der Geruch des glosenden Feuers, an dem die ausgehungerten Menschen Kartoffeln braten. Oder der modrige Geruch des Schlammes am seichten, schilfbestandenen Ufer.

Schon in Friedenszeiten herrschten in dieser entlegenen Region bittere Armut und Not, doch im Krieg wird die kleine, enge Welt der hier lebenden Menschen, die mit ihm nichts zu schaffen haben wollen, vollends zerstört und in Trümmer gelegt.

Die Angst vor den eigenen Leuten

Im Dorf ist eine Abteilung deutscher Soldaten stationiert, die auf den Befehl zum Angriff warten, schweres Kriegsgerät steht getarnt in den Obstgärten, Panzer und andere militärische Fahrzeuge zerfurchen die sandigen Wege. Die Einheimischen, ärmliche Keuschler, müssen ihre Hütten mit den uniformierten Fremden teilen, die sich mit dem Recht des Stärkeren an ihren spärlichen Vorräten bedienen, an Mehl, Eiern, Brot, Speck, das wenige, was das karge Land hergibt.

Mehr noch als die Deutschen fürchten die Grenzbewohner die eigenen Leute, eine Gruppe versprengter polnischer Soldaten, die sich hochtrabend Partisanen nennen. Sie sind zu schwach, um sich mit den Deutschen anzulegen, weshalb sie sich damit begnügen, die eigenen Leute zu terrorisieren, und ihnen die letzten Reste von dem rauben, was die Deutschen übrig lassen.

Ihr Anführer, der Zugführer Siwy, eine der Hauptpersonen der Handlung, hat eine Pistole des polnischen Fabrikats Vis im Gürtel stecken, die ihm die Autorität verleiht, seine wenigen Männer zu schinden und mit patriotischen Phrasen zu traktieren. Hilflos müssen die selbsternannten Partisanen zuschauen, wie ihre Heimat einmal mehr zum Durchzugsgebiet fremder Mächte wird. Sie hocken in ihrem Versteck und zählen die Panzer und Geschütze der Deutschen, obwohl keiner da ist, dem sie das melden könnten. Dann lassen sie sich mit Selbstgebranntem volllaufen, den sie den wehrlosen Bauern abgepresst haben.

Frustriert richtet Siwy seine Aggression nicht gegen die deutschen Besatzer, sondern gegen seinen Gegenspieler im Dorf, den geheimnisvollen Fährmann Lubko, der mit der «Zigeunerin» zusammenlebt und nachts mit seinem Kahn Flüchtlinge über den Bug führt. Meist Juden, die aus der Mordzone der Deutschen hinüber auf die sowjetische Seite fliehen wollen, wo sie hoffen, wenigstens ihr nacktes Leben retten zu können. Das junge jüdische Geschwisterpaar Maks und Dora aus Warschau steht beispielhaft für die verzweifelte, am Ende nur zu oft vergebliche Suche nach einem Ausweg aus der Hölle von Gewalt und Grausamkeit.

Vergangen und brandaktuell

Lubko wohnt von jeher im Dorf, doch er wird von den Hiesigen als Fremder, als nicht zugehörig, betrachtet. So wie die übrigen Dorfbewohner will auch Lubko mit dem Krieg nichts zu tun haben und sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, was ihn in den Augen Siwys von vornherein verdächtig macht. Wer nicht gewillt ist, sich als Hurrapatriot zu bekennen, wird zum Feind der Nation gestempelt. Das klingt bekannt. Siwy kann als Vorgänger der rechtskonservativen, fremdenfeindlichen, bigotten und antisemitischen Ultrapatrioten gelten, die heute in Polen das Sagen haben.

«Grenzfahrt» ist über weite Strecken in der Vergangenheit angesiedelt und doch ein brandaktuelles Buch. Der Autor führt uns ohne jedes Pathos vor Augen, dass der Krieg, entgegen allen hochtrabenden Phrasen, nichts Edles und Heroisches an sich hat, sondern in den Menschen nur Ängste und niedrigste Instinkte weckt, abgestumpfte Brutalität und Gemeinheit. Über der Grenzregion, in der die Handlung angesiedelt ist, hängen auch heute wieder die Schatten des Krieges, der ganz in der Nähe geführt wird.

Es ist kein Zufall, dass Stasiuk das armselige Dorf am Bug zum Schauplatz der Handlung gewählt hat. Die zweite Ebene des Romans bildet ein ganz persönlicher Bericht von einer Reise, die der Erzähler, der vieles mit dem Autor gemeinsam hat, mit seinem dementen Vater unternimmt, einer Reise in die Vergangenheit, in das Heimatdorf des Vaters am Bug, das dieser als junger Mann in Richtung Warschau verlassen hat. Doch er hat sich nie vollständig vom Dorf mit seinen ärmlichen Hütten und den schmalen Feldern und feuchten Wiesen am Fluss gelöst.

Zu spät für Fragen

Diese Landschaft hat auch den Sohn, den Schriftsteller, geprägt. Denn Andrzej Stasiuk verbrachte, wie der Erzähler, als Kind und Jugendlicher in den Ferien viel Zeit bei den Grosseltern väterlicherseits. Das Dorf und der alles beherrschende, träg fliessende, doch trügerische Strudel bergende Fluss sind für ihn bis heute so etwas wie Sehnsuchtsorte, mit denen ihn zahllose Erinnerungen verbinden. «Frühe siebziger Jahre... Ich war ein Stadtkind, doch alle verlockenden, süssen und verbotenen Dinge habe ich dort erfahren. Dort habe ich mich zum ersten Mal bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, dort habe ich zum ersten Mal einen Mädchenkörper berührt, dort habe ich zum ersten Mal nackte, selbstlose Gewalt gesehen.»

Nun macht er sich mit dem Vater auf die Reise zurück in das magische Erinnerungsdorf, in der Hoffnung, dem alten Mann, der längst in einer eigenen, für keinen anderen zugänglichen Welt lebt, Geschichten von früher zu entlocken. Doch der Vater bleibt zumeist stumm. «Es ist zu spät. Nie hatte ich ihn nach etwas gefragt. Erst jetzt stellte ich Fragen.»

Es ist das alte Dilemma. Stasiuk gehört einer Generation an, die keine Fragen gestellt hat. Nicht weil es verboten war, sondern weil es ihr gar nicht in den Sinn kam – oder jedenfalls erst viel später, oft zu spät. Jene, die Antworten hätten geben können, waren entweder tot, oder sie wollten oder konnten sich nicht mehr an jene Zeiten erinnern, die auch über ihrem Leben wie düstere Schatten lagen, obwohl sie sie gar nicht bewusst erlebt hatten.

Mit «Grenzfahrt» ist Andrzej Stasiuk erneut ein grandioser Roman gelungen, der hilft, wenigstens ansatzweise das vergangene, vielmals geschundene und verratene Polen zu verstehen und auch das heutige, das nach wie vor mit den Dämonen der Vergangenheit und den Toten ringt, nicht nur Polen, sondern vor allem Juden, über die heute wieder heftig und hitzig gestritten wird. Die Wurzeln für diese verstörende Entwicklung, die Polen zu einem Aussenseiter im freien Europa macht, sind in der Vergangenheit zu suchen, von der Andrzej Stasiuk in «Grenzfahrt» so berückend wie bedrückend erzählt.

Andrzej Stasiuk: Grenzfahrt. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023. 355S., Fr. 34.90.

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