Andrzej Stasiuks „Grenzfahrt“: Träume und Alpträume in Polen 1941 - WELT (2024)

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Der Pfarrer ist skeptisch. Vor seiner Tür steht mitten in der Nacht „die polnische Armee“ in Gestalt zweier abgerissener Männer und fordert Einlass. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht … Ohne Uniform? Da kann ja jeder …“ Doch Zugführer Siwy hat ein schlagendes Argument im Gürtel seiner Hose: „Polnische Pistole, also auch polnische Armee.“

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Andrzej Stasiuk erzählt in seinem neuen Roman von einem merkwürdigen Krieg, einem östlichen Drôle de guerre, wie man in Frankreich die Zeit zwischen dem Kriegsausbruch im September 1939 und dem deutschen Westfeldzug im Mai 1940 nennt. „Grenzfahrt“ spielt in den Tagen des Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Das Personal des Romans scheint ebenso zusammengewürfelt wie jene Partisanentruppe, die der polnische Unteroffizier Siwy auf der deutsch besetzten Seite des Flusses rekrutiert hat (auf der anderen Seite steht dank des Hitler-Stalin-Pakts die Rote Armee).

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Da ist der opportunistische Bauer Romaniuk, bei dem die Freischärler mit jener einzigen polnischen Pistole sich verstecken. Die Frau vom Nachbarhof, die die einen „Zigeunerin“ nennen und die anderen wegen ihrer Heilkünste „Hexe“. Der junge deutsche Soldat, der mit seiner Truppe in ihrem Haus einquartiert ist und der vor der Offensive von ihr im Tausch gegen ein Fernglas seinen ersten Sex bekommt. Das jüdische Geschwisterpaar aus der fernen Stadt, das die Familie zur Flucht in die UdSSR bestimmt hat und das nun auf der deutschen Seite der Grenze festsitzt. Und der Fährmann, der von der anderen Uferseite stammt, wo die Sowjets seine Hütte abgebrannt haben, und der nicht nur ein Boot hat, sondern auch weiß, wie man den Fluss unbemerkt überwindet.

Inmitten der „Bloodlands“

Obwohl Stasiuk mit teilweise fiktiven Ortsnamen arbeitet und der Name des Flusses – der Bug – nicht fällt, kann man die Handlung ziemlich genau lokalisieren: in der Umgebung der polnischen Kleinstadt Drohiczyn, die damals auf der „russischen“ Seite lag. Doch geht es Stasiuk, dem großen Dichter der „sarmatischen“ Weiten, um eine exemplarische, parabelhafte Konstellation. Er zoomt in jenem von Timothy Snyder „Bloodlands“ genannten Osteuropa einen winzigen Ausschnitt heran. Zwei Höfe, ein Dorf, der Fluss, eine Kleinstadt bilden einen toten Winkel der Weltgeschichte, deren furchtbare, schicksalhafte Abläufe wir im Großen fürchten gelernt haben: Totalitarismus rechter und linker Ausprägung, Vernichtungskrieg, Holocaust.

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Vergangenheit und Zukunft suchen die Figuren jeweils in Alb- oder Tagträumen heim. Der jüdische Flüchtling Max, ein vom sozialistischen Paradies träumender Philosophiestudent, fährt in Gedanken immer wieder über die Landkarten des weiten Sowjetreichs und malt seiner verzweifelnden Schwester eine märchenhafte Reise aus.

Siwy, der mehr lächerliche als tragische Patriot, ist von der Niederlage Polens 1939 traumatisiert und faselt vom finalen Triumph gegen Deutsche und Russen zugleich, ein Don Quichotte des Vorkriegsnationalismus. Ein nur „Junge“ genannter Partisan träumt sich immer wieder in die kindliche Idylle seines Heimatdorfs zurück. Der Name wird kurz genannt: Sobibór. Anfang 1942, ein halbes Jahr nach der Handlung des Romans, wird dort mit dem Bau des Vernichtungslagers begonnen, in dem etwa 180.000 Juden in Gaskammern ermordet wurden.

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In Fieberträumen eines Sterbenden verwandelt sich die noch trügerisch ruhige Sommerlandschaft bereits in einen Weltenbrandherd. Wenn in einem solchen Totenreich ein Fährmann über einen Fluss fährt, ist der Acheron nicht weit. Doch passt die mythische Vorlage hier nicht wirklich. Dieser Charon, der hier Lubko heißt, bringt vielmehr Juden ans rettende Ufer, aus handfesten Interessen zwar, doch unter Einsatz des eigenen Lebens.

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Auffällig ist, wie die zunächst anonymen Figuren im Verlauf des Romans Eigennamen erhalten, als würde die Geschichte selbst sie zu Individuen, zu autonomen Akteuren machen – dies freilich im Guten wie im Bösen. Gewalt ist in diesem spannenden und actionreichen Roman ständig präsent, bei der Hinrichtung eines vermeintlichen Spions, der Schlachtung eines Schweins, einer geheimen Mission auf der russischen Seite. Doch erst am Schluss eskaliert die zufällige Begegnung verschiedener Schicksalslinien in brutaler Weise.

Stasiuk unterbricht die multiperspektivisch erzählte Handlung durch autobiografische Gegenwartspassagen, in denen er die Orte des Romans als eine Erinnerungslandschaft der eigenen Kindheit erkundet. Er besucht dort seinen an Demenz erkrankten Vater, sucht nach Spuren der Vergangenheit, stellt aber fest, dass die Geschichte nur als Fiktion zu bewahren ist.

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Stasiuk beschwört eine Welt, die unweigerlich ins Vergessen sinkt, im Einzelnen, aber auch in einem ganzen Land – der heute schon wieder von rechten Parolen vergifteten polnischen Provinz. Als Roman über Entwertung des Menschenlebens im Krieg, über Verrohung und die Auflösung der Moral hat „Grenzfahrt“ schockierende Aktualität. Sein eigentlicher Protagonist ist die Landschaft selbst, die heute, etwas weiter im Osten, abermals zum blutigen Schindanger geworden ist.

Andrzej Stasiuk: „Grenzfahrt“. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp, 355 Seiten, 25 Euro.

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