Die nahe weite Welt: Andrzej Stasiuks grandiose "Beskidenchronik" (2024)

In Andrzej Stasiuks «Beskiden-Chronik» weht ein Atem von Welt, wie wir ihn in der Lähmung der Corona-Krise so sehr vermissen. Der Mystiker des Realen schreibt nicht über Politik und Polen, sondern vom Sterben und Reisen und immer wieder von Landschaften.

Die nahe weite Welt: Andrzej Stasiuks grandiose "Beskidenchronik" (1)

Während die Corona-Krise uns zu Abschottung und Abgeschiedenheit zwingt, gibt es Lektüren, die uns die Welt auf fabelhafte Weise erschliessen. Andrzej Stasiuks «Beskiden-Chronik» ist ein solches Buch der Stunde. Aus dem abgelegenen Winkel seiner südostpolnischen Heimat unternimmt Stasiuk, Verfasser von zwei Dutzend Romanen, Erzähl- und Essaybänden, Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung; er erkundet Landschaften und Menschen, sinnt über Politik, Religion und Migration nach, erinnert sich an abenteuerliche Reisen nach Kasachstan und in die Mongolei, immer auf der Suche nach dem Wesen der Schöpfung und jenen «winzigen Einzelheiten», die «die Interpunktion im unermesslichen Poem der Welt» bilden.

Tatsächlich ist es dieser doppelte Blick, der Stasiuks Texte – im gegebenen Fall 76 kurze, für eine Wochenzeitung verfasste Prosastücke – so faszinierend macht: wie präzise Wahrnehmung in grosse Fragen mündet, wie das Nächstliegende ins Metaphysische kippt. Nur mit Selbstkommentaren hält sich der 59-jährige Mystiker des Realen zurück: Die Tagebücher seines Landsmanns Witold Gombrowicz sind ihm da ein abschreckendes Beispiel. Lieber unterhält er sich mit seinem schwarzen Lieblingsschaf Mania, was dann ein wenig so klingt wie das Gespräch von Saint-Exupérys kleinem Prinzen mit dem Fuchs – oder eine Spur ironischer.

Extravaganter Reisender

Stasiuk ist ein mit allen Wassern des Lebens gewaschener Schriftsteller, bewandert in Häuserbau, Viehzucht, Automechanik, ein extravaganter Reisender, der den eurasischen Kontinent mehrmals mit seinem Pick-up durchquert hat, und ein grosser Poet, mag er nun ein Silvesterfeuer oder einsame Bergfriedhöfe zu Allerseelen beschreiben, seine Kindheitslandschaft am Fluss Bug oder die graubraune kasachische Steppe. Unter der Hand wird ihm die Materie zu einem Flüssigstoff von atemberaubendem Glanz. Man kann ihm dabei zusehen und versteht doch nicht, wie diese Verwandlung gelingt.

Dem Menschengemachten allerdings gewinnt er deutlich weniger Poesie ab. Den Betonmonstern von Kirchen, die wie «Hangars der Religion, Lagerhallen des Glaubens, Reparaturwerkstätten der Heiligen Dreifaltigkeit» Kleinpolen und das Karpatenvorland verunstalten, den Balustraden, Zäunen, Antiquitäten aus Gips, «Wisenten aus Epoxid und Päpsten aus allem Möglichen», den Wahlplakaten, die «Marsmenschen» in einem «Photoshop-Licht» zeigen, «wie aus Guttapercha gemacht und mit Synthetik überzogen».

Mit Zynismus quittiert Stasiuk die Geschmacklosigkeiten des neuen Wohlstandspolen, mit Bitterkeit geisselt er den Vergangenheitskult und die Flüchtlingspolitik der Regierung. Besonders eindringlich bei der Beschreibung des Dreikönigstags, da fröhliche Horden, «schwarz geschminkt, mit Turbanen auf dem Kopf, in idiotischen Gewändern» durch die Strassen ziehen. «Über uns leuchtet kein Stern, der den Weisen, den Astrologen oder Königen den Weg gewiesen hat. Wir müssen uns selbst die Gesichter schwärzen und Pluderhosen anziehen. Den Fremden führt kein Stern mehr. Der Hunger treibt ihn, der Krieg treibt ihn, die Angst treibt ihn, die gleiche wie unsere. (...) Wir unterscheiden uns in nichts von den Ankömmlingen. Wie sie wollen auch wir nur überleben.»

Es gibt noch deutlichere Worte, zugleich verhehlt Stasiuk nicht, wie sehr ihn die Politik nicht nur ärgert, sondern auch langweilt, desgleichen der Kulturbetrieb, und warum er es vorzieht, heimischen Alltag und Landschaften abzufragen, vor allem Letztere, mit unermüdlicher Neugier. Als fahrender Feuilletonist entdeckt er die Themen en route, im Morgengrauen, auf kurvenreichen Landstrassen. An einer öden Bushaltestelle nimmt er eine Internatsschülerin mit Riesentasche mit, vor einem Supermarkt beobachtet er die ersten Käufer. Es entgeht ihm nicht, dass radelnde Sternsinger in der Tiefe einer «monochromatischen und hypnotischen Landschaft» verschwinden und mit chinesischem Leuchtkram bestückte «sogenannte Markets» eine «Luziferiade für Arme» sind. Das ist Ethnografie à la Stasiuk, unaufdringlich, aber vielsagend. Was zunächst trivial scheint, offenbart in der Optik des Autors existenzielle, ja universelle Züge. Weil er die Ereignisse selbst sprechen lässt und nicht auf Secondhand-Informationen oder digitale Surrogate vertraut.

Sehnsucht nach Krieg

Auch ohne einen einzigen Fernsehkanal, so Stasiuk, sei es heute schwer, etwas gegen den «apokalyptischen Ansturm der Wirklichkeit» auszurichten, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden, dem Medienhype zu widerstehen. «Privates Denken, die eigene Phantasie werden zum Luxus wie sauberes Wasser und unverschmutzte Luft.» Über diesen «Luxus» verfügt Stasiuk freilich in hohem Mass. Er lässt sich keine Denkrichtung verbieten, imaginiert zum Beispiel mit rebellischem Freimut, wie es wäre, die verbitterten alten Kirchenmänner in ihren Zölibatsfesseln durch lebenserfahrene Frauen zu ersetzen: «Ich denke, nur das Weibliche ist in der Lage, uns durch diese dürftige Zeit zu führen. (...) Was für ein Problem sollte es für [Gott] sein, den alten Männern ein wenig Ruhe zu gönnen.» Das sehen konservative polnische Katholiken wohl anders, so wie sie mit Stasiuks Bashing regressiver Geschichtspolitik ihre liebe Mühe haben dürften. Von «historischer Lobotomie» ist da die Rede, «um einer allumfassenden Fiktion Platz zu machen. Die Fiktion beherrscht man eindeutig leichter.»

Stasiuk wählt seine Worte genau, mitunter erschreckend genau. Wenn er konstatiert, das Volk sehne sich nach Krieg wie die Bäume nach Regen. Das ganze mediale Gemurre und Gezeter widerspiegle tief verankerte gesellschaftliche Ressentiments, die «in dürftiger Zeit» zu implodieren drohten. Solche Warnsignale wirken umso stärker, als der eigenbrötlerische Patriot augenzwinkernd zugibt, lieber das Wild zu betrachten als das Volk. «Zu allem Überfluss mit einem Hund, der einen rumänischen Namen trägt.»

Doch die schönsten Seiten des Buches handeln weder von Politik noch von Polentum, sondern von Gedanken über das Sterben («Nur das können wir tun: gemeinsam warten»), über die Unsterblichkeit («Wir werden ganz einfach nichts mit ihr anzufangen wissen»), über den Zweck des Reisens («um endlich den Ort zu finden, da unsere Anwesenheit endgültig versinkt und wir nicht mehr von allem anderen zu unterscheiden sind, von dem, woraus wir gemacht sind») und immer wieder von Landschaften. Diesen gilt Stasiuks grösste Liebe, man könnte sie ohne Pathos pantheistisch nennen.

Landschaft als das Uralte und immer neu Erfahrene, Landschaft, die den Einzelnen transzendiert und glücklich staunen macht. Weshalb der Autor bei ihrer Beschreibung zu poetischer Hochform aufläuft. Da sitzt er am frühen Morgen in seinem Holzhaus und blickt durchs Fernglas. Hof, Schubkarren, Zaun, Wiese, dann Wald: Kiefern, Tannen, Buchen, Lärchen. Hinten die Schafe und ihre dunkelgrün glänzenden Kötel im Gras. Ein vertrautes Szenario, mit den «fliegenden Lappalien» der Vögel, und ein Wunder der Natur, durch das Okular vergrössert und herausgeschält.

Auf nur drei Seiten erzählt Stasiuk eine Schöpfungsgeschichte en miniature, ein «Poem der Welt», das sich im ausgeblichenen Azur und schliesslich im «gnadenlosen Weltall» aufzulösen scheint. Unendlich tröstlich. Mag sein, dass unsere krisengeschärften Sinne für solche Erkundungen (deren Sprachkunst Renate Schmidgall stilsicher wiedergegeben hat) zurzeit besonders empfänglich sind. Umso besser.

Andrzej Stasiuk: Beskiden-Chronik. Nachrichten aus Polen und der Welt. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2020. 299S., Fr. 37.90.

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Andreas Breitenstein

5 min

Der Ruf der Beskiden Wer die einschlägigen Umsatztabellen zum polnischen Verlagswesen zur Hand nimmt, wird den Czarne-Verlag darin nicht finden. Dennoch ist das kleine Haus mit Fokus Mitteleuropa ein Leuchtturm im Kulturleben Polens. Geführt wird es vom Starautor Andrzej Stasiuk und von seiner Frau Monika Sznajderman.

Gerhard Gnauck

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